Falls ihnen bei der Aufzählung der technischen Leistungsmerkale das Wasser im Munde zusammenläuft sind sie nicht allein, mir ging es genauso. Nur schon der Gedanke am Lenker dieser fantastischen Maschine ein paar hundert Kilometer zurückzulegen, bringt mein Blut in Wallung. Freundlicherweise wurden wir vom Schweizer Yamaha-Importeur Hostettler in die südlichste Spitze von Spanien nach Mojacar eingeladen. Gerne sind wir dieser Einladung gefolgt, auch wenn die Testfahrt an einem Freitag den 13. geplant war. Zum Glück waren die Fahrbedingungen bei strahlendem Sonnenschein ausgezeichnet. Bei fast schon sommerlichen Temperaturen – kein Vergleich mit den Bedingungen zu Hause in Helvetistan – genossen wir den Testtag.
Kaum berührt mein Gesäss den Fahrersitz, fühle ich mich schon wohl. Trotz des eher sportlichen Aussehens und der harten Schale, liefert der Sitz einen gut dosierten Komfort. Die Angaben auf dem Einzelbildschirm sind, auch bei der starken Frühlingssonne in Mojacar, sehr gut ablesbar. Man sieht eine graphische Kolonnenangabe der Drehzahl, eine digitale Geschwindigkeitsanzeige und alle nötigen Informationen der Fahrt, wie Tageskilometer, durchschnittlicher und momentaner Verbrauch, die Wasser- und Luftzufuhrstemperatur, ... Erstaunlicherweise ist die MT-10 mit einem Tempomaten ausgerüstet; mir erschiene es logischer, dass der Tempomat als Option erhältlich, dafür aber der Quickshifter standardmässig zur Verfügung stände.
Auf der rechten Lenkerseite befindet sich der Knopf für die Wechsel der Fahrmodi. Standard, A und B aufsteigend, B ist die aggressivste Variante. Die Wahl des Fahrmodus wirkt ausschliesslich auf das Drehen des Gasgriffs, der mit der Ride-by-Wire-Technologie mit dem Motor der Yamaha verbunden ist. Links am Lenker befindet sich der Knopf für den Tempomaten und der Traktionskontrolle, die drei verschiedene Möglichkeiten bietet, aber auch ganz abgeschaltet werden kann. Mit Ausnahme der Off-Position können alle Fahrarten während der Fahrt verändert werden (in die Off-Position kann nur im Stand gewechselt werden).
Nun aber zurück zu unserem Hauptanliegen: die Fahrt auf diesem Wunderwerk. Meine Herren, starten sie die Motoren! Wir folgen dieser Anweisung ohne zu zögern. Das Brüllen der Motoren jagt mir einen Schauer über den Rücken. Man erkennt unweigerlich den typischen Klang des 998 cm3 Crossplane-Motors, der eher an einen V4-Motor denken lässt. Fehlt nur noch der unter den Optionen angebotene Akrapovic-Aufsatz und man wäre auf Wolke 7.
Um uns dem dynamischen Verhalten der MT-10 anzunähern und der urbanen Umgebung unseres Startortes angepasst, beginnen wir unsere Fahrt mit der Standard-Einstellung. Langsam lassen wir die mechanisch gesteuerte Kupplung los und der Vierzylinder setzt sich mit einer erstaunlichen Weichheit in Bewegung. Obwohl der Klang des Motors zornig und unkontrollierbar wirkt, ist die Kraftentwicklung bei tiefen Drehzahlen schon fast als zahm zu bezeichnen.
Wir bringen die Mechanik an diesem angenehmen kühlen Morgen auf Betriebstemperatur, indem wir die Gänge hoch und runter schalten. Trotz des Gefühls langer Wege, reagiert das Getriebe präzise, die Gänge lassen sich instinktiv einlegen. Der Kupplungshebel benötigt eine gewisse Kraft im Handgelenk um betätigt zu werden, dies erinnert uns an die virile Kraft der MT-10.
Nach wenigen Radumdrehungen schätzt man die Wendigkeit des Motorrades im Stadtverkehr, obwohl der Einschlagswinkel der Lenkung etwas limitiert ist. Mit der typischen Roadster Sitzstellung – leicht nach vorne gebeugt – hat man einen ausgezeichneten Rundumblick. Damit sich nähernde Gefahren von hinten durch die Rückspiegel erkennen lassen, müssen die Ellbogen an den Körper gedrückt werden.
Kurz nach dem Verlassen des Stadtgebietes von Mojacar befinden wir uns auf einer Schnellstrasse. Nach einigen Kilometern bei hoher Geschwindigkeit bemerken wir den guten Windschutz. Erstaunlicherweise spürt man nur an Kopf und an Schultern einen gewissen Winddruck. Sofern man einen windabweisenden Helm besitzt, sollten hohe Geschwindigkeiten keine Mühe bereiten. Und die MT-10 muckt auch nicht auf. Kein Wunder: der Drehzahlmesser zeigt nur 5'000 U/Min. und dies bei 120 km/h im sechsten Gang... weit weg von der roten Zone, die bei 12'000 U/Min. beginnt.
Kurz nach den Küstenstrassen zeigen sich die ersten Berge. Und wer Berge sagt, meint unendliche Kurvenkombinationen. Die spanischen Strassen ausserhalb der Stadtgebiete sind häufig mit einem wenig rutschigen Asphaltbelag ausgerüstet und meistens ohne Verkehr, was uns zu einem sehr zügigen Fahren verleitet. Wir sind dankbar für diese Streckenwahl, da mehr als 90% der geplanten 330 Kilometer, dieser Art Strasse entspricht.
Bevor wir uns in die Kurven stürzen möchte ich noch einige Worte über den vielversprechenden CP4-Motor verlieren. Selbstverständlich basiert seine Bauweise und Charakteristik auf dem R1-Motor. Um die MT-10 zu bewegen, wurde das Drehmoment bei tiefen Drehzahlen erhöht, hingegen ging dabei etwas Leistung im oberen Bereich verloren. Ein Roadster wird in erster Linie als Strassenfahrzeug genutzt, weshalb ein Motor, der bei 14'000 U/Min. mehr als 200 PS entwickelt, wenig sinnvoll wäre. Ausser den Kollegen bei einem Feierabendbier würde man damit niemanden beeindrucken. In der Praxis zeigt der CP4 vor Allem bei über 5'000 U/Min. seine Leistung; unter diesem Wert bietet er eine eher lahme Fahrweise. Übrigens wird genau bei dieser Grenze die Klappe im Auspuff aktiviert, die den Vierzylinder zum singen bringt. Bei dynamischer Fahrt wird man versuchen, die optimalen Drehzahlspanne zu behalten. Dabei verhält sich der Motor gezähmt und überrascht nicht mit einem unerwarteten Schub von brutaler Leistung, die von einem durchschnittlichen Fahrer kaum zu meistern wäre. Ausserdem überwacht die Elektronik alles genau, damit man die Kontrolle nicht verliert. Trotzdem ist das Drehmoment in allen Bereichen so hoch, dass das Vorderrad ständig versucht, abzuheben und dies auch noch im 4. Gang. Nicht verwunderlich, dass die Gabel des Vorderrades kaum entlastet werden kann. Bei diesem Motor hat man den Eindruck, mit einem V4-Motor unterwegs zu sein. Im Vergleich ist der V4 von Aprilia viel wuchtiger und bei tiefen Drehzahlen bereitwilliger. Dementsprechend wäre es sinnvoller die MT-10 mit der BMW S1000R oder der Suzuki GSX-S1000 zu vergleichen.