
Die Bologneser Ingenieure begnügten sich nicht mit dem Montieren von Stollenreifen und einem grossen Benzintank am bestehenden Multistrada-Model. Nein, es entstand ein gänzlich neues Motorrad, das jetzt, nach fast zwei Jahren Entwicklungszeit, auf den Markt kommt.
Auf den ersten Blick erkennt man, dass die Multistrada 1200 Enduro aus der gleichen Familie stammt, wie ihre kleinere Schwester. Die LED Scheinwerfer und der aggressiv wirkende Federgabelkopf beweisen einmal mehr, dass die Italiener wahre Meister des Designs sind, auch wenn der riesige Benzintank das positive Gesamtbild etwas schmälert.
Um die Multistrada 1200 Enduro geländetauglich zu machen, erhielt sie vorne 19 Zoll Speichenfelgen und hinten solche mit 17 Zoll, die mit Pirelli Scorpion Rally (zertifiziert bis 190 km/h) bestückt sind. Der Federweg der halbaktiven Sachs-Stossdämpfer wurde um 30 mm erhöht und erreicht jetzt hinten wie vorne 200 mm. Mit einer Bodenfreiheit von neu 205 mm (+31 mm) wird das Überqueren von Hindernissen zum Kinderspiel. Ein 4 mm dicker Alluminiumschutz, der mit zwei geschmiedeten Aluhaltern direkt am Rahmen fixiert ist, umspannt den Motor. Um die spezifischen Belastungen beim Geländefahren besser zu bewältigen, wurde die, für Ducati typische einarmige Hinterradschwinge, durch einen traditionellen, verstärkten und verlängerten Schwingarm ersetzt.
Der Radstand wurde um 65 mm verlängert, um die Stabilität des Motorrads zu erhöhen. Der neue Richtungsstossdämpfer soll das Schlingern des Lenkers verhindern. Die für Enduros typischen stählernen Fussrasten und der um 50 mm erhöhte Lenker erlauben ein komfortables Fahren in stehender Position. Der Schnabel über dem Vorderrad wurde verlängert und gibt, zusammen mit dem Radschutz, gegenüber dem S-Modell, eine eigene Identität. Der zentrale Ständer gehört zur Standardausrüstung und erstmals stattet Ducati ein Motorrad mit einer Standbremse aus. Mit einem einfachen Druck auf die Handbremse wird diese während neun Sekunden aktiviert, was das Anfahren am Berg vereinfacht. Der Fahrer- und Soziussitz, sowie die Handgriffe für den Passagier wurden überdacht.
Mit einem gänzlich neuen Auspuff, der schmaler und höher ausgelegt ist, schafft Ducati Platz für einen grösseren Alukoffer, ohne die Gesamtbreite des Motorrads zu erhöhen. Eine ausserordentliche Leistung, wenn man die Koffervolumen der Konkurrenz auf der Auspuffseite mit der Ducati-Lösung vergleicht (40 gegenüber 45 Liter).
Die Getriebeübersetzung wurde angepasst, damit man im Gelände auch langsam sicher Fahren kann.
Der Enduro-Modus, der schon bei der 1200-S zur Verfügung steht, wurde mit zusätzlichen Auswahlmöglichkeiten ausgestattet. So gibt es jetzt geländespezifische Federungs- und Motoreinstellungen. Um das Hinterrad blockieren zu können, wurde das ABS hinten ganz desaktiviert, vorne ist es vorhanden, ist aber wenig intrusiv.
Die Ducati Multistrada 1200 Enduro bringt neu stolze 235 kg Leergewicht auf die Waage (+23 kg gegenüber dem S-Modell) und wiegt 254 kg fahrbereit. Der riesige Benzintank schluckt 40 Liter und garantiert eine Reiseautonomie von mehr als 450 km.
Das Herz der Multistrada hat sich nicht verändert. Der bekannte Testastretta DVT 1200 Motor mit sich wechselnd öffnenden Ventilen, behält seine geballte Feuerkraft und stellt bei 9'500 U/Min 160 PS und bei 7'500 U/Min 136 Nm zur Verfügung. Die Spitzenelektronik der 1200 S wurde ebenfalls in der Enduro eingebaut: Antriebskontrolle, Anti-Wheeling, ein ABS von Bosch, das gleich wie bei der KTM 1299 Adventure, auch in den Kurven arbeitet, das Ducati Skyhook System für die Kontrolle der Federung, LED-Scheinwerfer, mit einem Zusatzsystem für die Ausleuchtung der Kurven, vier verschiedene Fahrmodi (Sport, Touring, Urban und Enduro), ein 5 Zoll-Farbbildschirm TFT, ein elektronischer Tempomat, eine USB-Steckdose zum Laden elektronischer Apparate, sowie eine Smartphone-Applikation, die ihnen erlaubt die ankommenden Mitteilungen direkt auf dem Bildschirm zu sehen, dient aber auch dazu die Betriebsinformationen und viele andere Informationen zu ihrer Fahrweise zu speichern und zu analysieren.
Mehr dazu finden sie im Testbericht der Multistrada 1200 S (nur auf Französisch erschienen) meines Kollegen Charles, der dieses Thema ausführlich behandelt. Ich beschränkte mich bewusst auf jene Elemente, die spezifisch die Multistrada Enduro betreffen.
Zur offiziellen Vorstellung der Multistrada 1200 Enduro wurde die Presse von Ducati nach Cagliari auf Sardinien aufgeboten. Auf der Menükarte standen eine 140 km lange Strassenstrecke und ungefähr 75 km im Gelände.
Seite an Seite mit meinem Kollegen Micha’ vom Töff Magazin nehmen wir die Strassenstrecke als Erstes in Angriff. Leider ohne Sonnenschein, aber mit Temperaturen, die einiges angenehmer als zu Hause in der Schweiz waren. Ein Druck auf den Starterknopf und das dumpfe Grollen der Teststretta erreicht mein Ohr. Ich kann ihnen versichern, dass trotz der strengen EURO4-Normen, eine Ducati immer noch wie eine Ducati tönt. Ich liebe diesen Klang und würde mich sogar mit dem Originalauspuff zufriedengeben.
Es ist das erste Mal, dass ich auf Sardischen Strassen unterwegs bin. Ich verstehe augenblicklich, weshalb diese Insel bei Motorradfahrern so beliebt ist. Die von Ducati geplante Strecke führt zuerst entlang der Küste und später ins Bergmassiv Sardiniens und dies über viele kleine aneinandergereihte Kurven. Die Landschaft ist atemberaubend und der Gegenverkehr fast inexistent.
Im Sattel hat man den Eindruck „im“ Motorrad zu sitzen. Anfangs beeindruckt die Grösse des Benzintanks, man merkt aber sehr schnell, dass die Stellung der Beine nicht behindert wird. Die Sitzhaltung ist ausgesprochen komfortabel.
Auf der Strasse zeigt sich die Multistrada 1200 Enduro sehr beweglich. Trotz ihrer Grösse balanciert man mit einer beeindruckenden Leichtigkeit von einer Schräglage in die andere. Der einhändig verstellbare Windschutz schützt bei der höchsten Einstellung genügend, dies auch bei hoher Geschwindigkeit. Hingegen dürfte man bei dieser Preisklasse erwarten, dass sie sich elektrisch einstellen lässt. Die Bremsen sind gewohnt kräftig.