Genug der technischen Angaben, besteigen wir die R1 um sie endlich zu fahren. Der erste Eindruck: sie ist sehr kompakt. Das Aussehen täuscht nicht, ich habe das Gefühl auf einer 600er zu sitzen, einer kompakten 600er! Die Bewegungsfreiheit rund um den Sitz ist ausgezeichnet, ob vorwärts – rückwärts oder seitwärts.
Da es sich um ein Rennmotorrad handelt, ist die Sitzposition leicht nach vorne geneigt. Für meinen Geschmack könnte der Lenker etwas mehr geöffnet sein, für mein empfinden ist er zu eng ausgelegt. Die Instrumente sind übersichtlich und ergonomisch angebracht und ich kann mit Leichtigkeit die verschiedenen Knöpfe bedienen. Auf der linken Seite befindet sich die Wahlmöglichkeit für die Motoreinstellung und rechts das Scrollrad für die allgemeine Anzeige, die Anti-Schlupfregelung usw. Der fein gezogene Benzintank erlaubt das Einklemmen der Maschine zwischen meinen Schenkeln und entlastet meine Arme in den Bremsphasen.
Jetzt kommt der Moment, den Crossplane Vierzylinder auf die Umlaufbahn zu schicken und ... whaooooo! Schon in den unteren Drehzahlen gibt der Motor ein steinzeitliches Gebrüll von sich und strahlt pure Kraft aus. Ich lege den ersten Gang ein und mache mich hinter Jeffry de Vries (Yamaha’s Europavertantwortlicher für Testfahrten, mit 104 Teilnahmen an WSBK Rennen) auf den Weg, die australische Rennstrecke kennenzulernen.
Die Strecke besitzt zwei sehr unterschiedliche Charaktere. Zu Beginn einen sehr schnellen Teil, mit offenen Kurven, in die man schön reinliegen kann, anschliessend folgt der neue, technischere Teil, mit sehr engen Kurven, hier muss das Motorrad von einer Seite auf die andere gelegt werden. Glücklicherweise habe ich mich nicht lange mit dem Videostudium der Rennstrecke beschäftigt, da dieser Streckenabschnitt neu und noch wenig befahren ist. Auf eine lange, leicht abschüssige Gerade folgt eine Linkskurve, bei der es allen Mut braucht, diese schnell zu fahren.
In den schnelleren Streckenabschnitten kann ich voll und ganz vom Motor profitieren. Die Crossplane besitzt einen unglaublichen Antrieb, mit Leichtigkeit reihen wir Runde an Runde. Man spürt keinen Wiederstand, der Motor dreht, dank den Titanpleueln und den Sperrhebeln in den Zylindern, mit einer atemberaubenden Leichtigkeit bis zum Drehzahlbegrenzer. Die Arbeit der Yamaha Ingenieure zahlt sich aus.
Der Zündzeitpunkt gibt dem Motor eine berauschende Zugkraft. Durch die direkte Verbindung zwischen dem Gasgriff und dem Hinterrad spürt man alles, was unter dem Rad vor sich geht. Zur Erinnerung: der Crossplane Motor hat die gleichen Eigenschaften wie eine V4. Das erlaubt, sich mit viel Leistung aus den Kurven zu katapultieren. Dank der überwachenden Elektronik kann man sich – ohne Gefahr – sogar gewisse Abdrifter des Hinterrades erlauben. Die Elektronik ist sehr transparent und überhaupt nicht aufdringlich, das Eingreifen macht sich nur durch vereinzeltes Blinken auf dem kleinen Bildschirm bemerkbar.
Bei Drehzahlen um die 7'500 U/min ist das Motorengeräusch unglaublich und das mit einem original montierten Auspuff. Der Grund für dieses wunderschöne Dröhnen kommt von den Ventilen, die sich in den Luftzufuhrsklappen und im Auspuff befinden und sich aufeinander abgestimmt öffnen und damit den Weg für das Gasgemisch freigeben.
Bei den Bremsen kann ich keine negativen Aspekte finden. Ich gehe die ersten Runden etwas vorsichtig an und erhöhe den Abstand des Bremshebels vom Handgriff leicht. Häufig verliert der Bremshebel bei der Fahrt etwas an Konstanz. Aber nicht so bei diesem Fahrzeug. Nach zwanzig Runden ist der Spielraum des Hebels immer noch gleich wie beim Start. Wieso bemerke ich erst nach dem Absteigen. Die R1 ist das erste japanische Motorrad (Anm. d. Red.: Stand Februar 2015) das mit Schlauchverbindungen aus der Luftfahrt ausgerüstet wurde. Das UBS System arbeitet zur vollsten Zufriedenheit und erlaubt kraftvolle Verlangsamungen. Es ist schwierig einzuschätzen wie weit man gehen kann. Den einzigen Vorbehalt den ich anbringen kann, betrifft eine kleine Verzögerung beim Zugriff auf den Bremshebel.
Auf einem Präsentationsblatt mit technischen Angaben wurde geschrieben, dass die Magnesiumräder und das Gewicht der R1 das Umlegen von einer Seite auf die andere stark erleichtern. Auch hier hilft die Antriebskontrolle, in dem sie die Leistung bei Schräglagen reduziert und diese wieder freigibt sobald die Maschine aufgerichtet ist und dabei ein kleines Wheeling erlaubt.
Die Kehrseite eines kompakten Motorrades ist seine Nervosität. Gemäss der Rennphase wird von mir verlangt auf dem Sitz viele Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen zu machen. Ich spürte mehrmals ein leichtes Zittern der Lenkgabel beim Beschleunigen und Geradestellen aus der Linkskurve vor der langen Geraden. Erst als ich mich auf dem Sitz etwas weiter hinten platzierte und mein Gewicht auf die Fussrasten stellte, war das Problem behoben. Die nächste Gerade erlaubt mir, den Motor auszuloten. Mit ganz offenem Gasgriff grollt er bis zum erreichen der roten Zone, die Gänge lassen sich mit dem Shifter schnell und leicht einlegen. Die vom Erbauer angegebenen 200 PS dürften wirklich vorhanden sein. Auf jeden Fall freue ich mich, die Leistungskurve auf einem Teststand zu sehen.
Im Vergleich zur grössten Konkurrentin – der S10000RR – ist der Motor der R1 weniger nervös, derjenige der BMW reagiert brutal und explosiv, hingegen ist das Chassis der Yamaha nervöser, während die BMW mehr Stabilität bietet, aber auch weniger handlich ist.
Die Lesbarkeit der Instrumentenanzeige könnte verbessert werden. Zu klein und zu weit unten platziert, befindet sie sich nicht im Blickfeld des Fahrers. Mehrmals wurde ich von Unterbrechern überrascht, weil ich die Lichtanzeige nicht bemerkt hatte. Zur Behebung dieses Mangels schlägt Yamaha eine spezielle Anzeige für die Rennpiste vor, die die Betriebsart der Motors ab 8'000 U/min und die Rundenzeiten angibt. Die Geschwindigkeit wird dann nur noch ganz klein angezeigt.
Im zweiten Teil meiner Testfahrt darf ich auf die R1M umsteigen. Im Gegensatz zur R1, die mit Bridgestone RS10R, ein Reifen, der für Rennstrecken entwickelt worden, aber auch für normale Strassen geeignet ist, ist die R1M mit Bridgestone-Slicks ausgerüstet.
Ich versuche mich auf die Rückmeldungen der Aufhängung und den Unterschied zwischen den verschiedenen Reifenarten zu konzentrieren. Was mir sofort auffällt, ist die bessere Bremskraft der R1M. Beim kräftigen Zugreifen in die Bremsen spürt man, dass sich die Gabel verhärtet und damit weniger abtaucht, was weniger Bremsenergie verbraucht. Dies erlaubt dem Fahrer, den Bremszeitpunkt noch weiter hinauszuzögern.
Der Öhlins-Stoosdämpfer ist etwas steifer und länger als derjenige der R1 und steckt die Kraft der galoppierenden Pferde bei der Beschleunigung noch besser weg. Es ist klar, dass die R1M noch besser als ihre Fast-Zwillingsschwester ist. Zweifellos werden sich früher oder später die elektronischen Federungen durchsetzten, sie werden das Fahren und Lenken nochmals erleichtern.
Die R1, ob in der Standardversion oder in der M-Version, ist eine wirklich gelungene Maschine, die ein unglaubliches Potential hat. Ihre Spielwiese ist selbstverständlich die Rennpiste und sollte somit den erfahrenen Piloten vorbehalten sein. Obwohl sie mit zahlreichen Hilfsmitteln, die dem Fahrer zur Seite stehen, ausgestattet ist, benötigt es einen gut gefüllten Rucksack an Erfahrung, um die 200PS dieser Maschine zu bändigen. Alle eingebauten Hilfsmittel ersetzen das Können des Fahrers nicht. Körperlich war die Fahrt anstrengend, noch Tage nach dem Test verspürte ich Muskelkater in verschiedenen Teilen meines Körpers.
Ich frage mich, ob die Yamaha Betreuergruppe – denen ich übrigens herzlichst für die freundliche und umsichtige Organisation Danke – es bemerken würde, wenn eine der R1 fehlte, weil sie sich in mein Gepäck verirrt hat?
Bonus Video: