
Wenige Monate nach der Vorstellung der XSR700, über die wir ebenfalls berichtet hatten, wurden wir von Yamaha für die Einführung der grossen Schwester, die auf dem eigenwilligen MT-09 Roadster aufgebaut ist, eingeladen. Die Zwillinge wurden erstmals bei der Mailänder Motorradmesse gezeigt und stellen den neuen Trend der Marke mit der Stimmgabel dar: Faster Sons. Die trendige neue Philosophie der Japaner will das Vergangene mit dem heutigen Wissen vereinen. Mit anderen Worten: Yamaha kocht die MT (Masters of Torque)-Serie an einer Retro-Sosse.
Das Ziel von Yamaha ist die Neuausstattung der Sport Heritage Reihe (mit dem Flaggschiff XJR 1300) mit Charakter und ultramodernen Leistungsausweisen. Die Japaner versuchen sich neu zu erfinden und verbinden Altes mit Neuem (und umgekehrt), das ganze wird mit einem grossen Glass Marketing übergossen und mit dem beliebten Gütezeichen Vintage geprägt und fertig ist das neue Produkt.
Wir werden uns in den folgenden Zeilen mit dem Umbau und der Verfeinerung der sehr modernen MT-09 in ein aussergewöhnliches Neo-Retro Bike befassen.
Die XSR 900 ist ein wirklicher Blickfang. Während die MT-09 mit einer gewissen Anmut verführt, empfindet man die Neue auf den ersten Blick als schön. Wie kommt es dazu? Eigentlich ist es nur eine neue Verkleidung und ein Alu-Benzintank, der an die XS650 oder an die XJR erinnert. Auf jeden Fall erhielt die XSR 900 eine markante Linie.
Während der (sehr) langen Vorstellung des Modells, zieht Yamaha Parallelen zwischen ihrem neuesten Spielzeug und der RD, dem 2-takter Roadster der 70er-Jahre. Die Grösse und das Material sind nicht vergleichbar, trotzdem verlassen wir nach unzähligen Powerpoint-Bildern den Saal mit dem Eindruck, dass die beiden Motorräder auf dem gleichen magischen Dreieck, Adrenalin, Reaktionsfähigkeit und Erbe der 70er Jahre, das durch den „Groove“ der Zeichner hervorgehoben wird, aufbauen. Die XSR 900 ist demnach eine MT-09, gezeichnet wie ein Motorrad der 70er-Jahre und verarbeitet aus richtigem Metall. Dies gibt ihr auch ein um 4 kg höheres Gewicht. Die kleinen runden Leuchten hinten und vorn, die minimalistische Instrumentenanzeige, die althergebrachte Sitzbank mit unauffälligen Aufdrucken sind mit einer für Yamaha typischen Sorgfalt verarbeitet. Falls der Käufer mit der Grundausstattung nicht zufrieden ist, kann er aus einer ellenlangen Liste für Sonderausrüstungen auswählen und sein Traumfahrzeug zusammenstellen.
Diese Elemente sind natürlich nur für das Aussehen wichtig. Unter dem schönen Kleid wurde der Motor und das Fahrgestell – gestützt auf die MT-09 – verfeinert. Zuerst möchten wir die um 15 mm erhöhte Sitzposition erwähnen; sie ist eher klassisch, aber ausgeglichener. Der Abstand zwischen dem Lenker und der Sitzbank wird mit einem längeren Benzintank überbrückt. Das etwas höhere Gewicht auf dem Vorderrad – im Vergleich zur MT-09 – dürfte der XSR ein stabileres Verhalten verleihen. Wie wir später sehen werden, ist dies tatsächlich der Fall.
Eine der Hauptneuheiten ist die Anti-Hopping-Kupplung, die das Runterschalten geschmeidiger machen und zusätzliche Stabilität verleihen sollte, sowie eine ausgefeilte Elektronik. Es stehen drei Leistungsstufen (vom Brachialen zum Kastrierten) zur Verfügung: A, Standard und B, dazu eine zweistufige, ausschaltbare Antriebskontrolle. Alle Änderungen müssen im Stillstand mit dem Schalter auf „Aus“ vorgenommen werden. Die MT-09 wird im Laufe des Jahres 2016 mit demselben TCS (Traction Control System), aber ohne Anti-Hopping-Kupplung, ausgerüstet.
Die Yamaha-Mitarbeiter brachten uns während der Präsentation mittels eines Triangels den Geist der neuen Ausrichtung näher. Die drei Bedeutungen der Seiten sind: das Adrenalin, die Sprunghaftigkeit und das Erbe der Vergangenheit. Wir sollten während des nächsten Tages versuchen, die drei Qualitäten mit Begeisterung umzusetzen.
Nach einer kurzen Nacht, etwas Morgengymnastik und einem Wettkampffrühstück erwarten uns die Maschinen aufgereiht vor dem Hotel. Wir freuen uns auf einen heissen (nicht nur auf die Temperatur bezogenen) Tag. Meine 176cm hinter dem Lenker platziert bemerke ich sofort die etwas höhere, nach vorne versetzte Sitzstellung. Während meine Hände den breiten Lenker fassen, fallen meine Augen auf den zierlichen runden Digital-Tachometer, der mir alle benötigten Informationen liefert.
Die Balkengraphik des Umdrehungszählers ist gut lesbar und erlaubt eine präzise Übersicht der Gänge, damit das gleich unter dem rechten Fuss angebrachte Auspuffrohr auch schön trompetet. Trotz der Einführung der Traction Control und dem sanfteren Gasimpuls begeistert die Geräuschkulisse und der Charakter des Motors immer noch. Unser Instruktor hat uns ausdrücklich vor Lausbubenstreichen gewarnt. In einem Präsentationsbild wurde unter anderem erwähnt, dass Wheelie oder andere Streiche dieser Art, während der Tests verboten sind. Wir sind vorerst enttäuscht, dies ändert sich nachdem Beat von Moto Sport Schweiz, unter den Augen des Instruktors, ungestraft einen Wheelie vormacht.
Kurz darauf findet er in mir einen Nachahmer. Beweis genug, dass die XSR 900 mit dem feurigen Temperament gegenüber seiner MT-Schwester in nichts nachsteht. Im A Modus und ab 5000 U/Min spielt die Motorenauslegung des Dreizylinders alle seine Trümpfe aus. Das sehr leicht gebaute Vorderteil ist erstaunlich stabil und gibt im Vergleich zur MT-09 unerwartete Rückmeldungen an den Fahrer. Die Kupplung ist sehr weich, ja man könnte auch seidig sagen. Der millimetergenau dosierbare Gasimpuls erlaubt sowohl das gelassene Durchqueren von Dörfern als auch das entfesselte Fauchen des Drachens in den Bergen von Fuerteventura.
Im wahrsten Sinne des Wortes fliegt einem alles um die Ohren. Auch wegen meines Jet-Helms kleben mir kleine Steinchen, Staub und Insekten aller Art an meiner grinsenden Visage. Nach der Anpassungsphase erhöhen wir den Rhythmus merklich und wir vergnügen uns königlich. Die Stabilität des Motorrades und die Bremsen geben mir die Sicherheit voll aus mir herauszugehen. Die Umkehrfeder des vorderen Stossdämpfers gibt genügend Spielraum ohne dem Fahrer eine falsche Sicherheit vorzugaukeln. Ich kann mich voll und ganz auf die Leistungskraft und die gefühlvolle Rückmeldung der vorderen Bremszange verlassen. Das Ganze wird von einem diskreten, schätzenswerten ABS überwacht. Die verschiedenen harten Bremsungen, die ich durchgeführt habe, gaben mir den Eindruck einer jederzeitigen Stabilität, ohne je von falschen Rückmeldungen in die Irre geführt worden zu sein.
Die Hinterradbremse bewährt sich und begrenzt den Vorwärtsschub auf den Bug. Die Antriebskontrolle ist damit beschäftigt, das Hinterrad gerade zu halten, und erreicht fast, dass sich das Vorderrad nicht vom Boden abhebt. Im Modus 1 schaltet sich das System erst nach einem ersten Rutschgefühl auf den leicht sandigen kurvenreichen Strassen der Atlantikinsel ein. Im 2 greift es viel schneller ein, was dem XSR etwas die Spitze der Lebhaftigkeit bricht. Bei rutschigen Verhältnissen (Regen, Kälte oder Ölspuren) spricht es sehr gut an. Da die Bedingungen auf den kanarischen Inseln ausgezeichnet waren, schalte ich das Anti-Rutsch System ganz aus und kann nun ungefiltert den fabelhaften Motor meiner Maschine geniessen.
Ich werde, auch ohne halsbrecherischen Fahrstil, wie auf einem Oldtimer, kräftig durchgeschüttelt. Die Bridgestone S20R Reifen verhelfen zu einer guten Bodenhaftung. Die Federung und die Bremsanlage tragen das ihre dazu bei ,den spielerischen Charakter der Yam’ zu nutzen. Drückt man die Drehzahlen in die hohen Sphären, versucht das Vorderrad zwischen zwei Kurven, Ikarus gleich, abzuheben. Welches Gebrüll! Welches Wohlgefühl! Ab 5000 U/Min wird man durch die ungebändigte Kraft nach vorne katapultiert und dies bis in den 5. Gang! Bis 11'000 U/Min nimmt der geneigte Motorradfahrer die schönste Musik in seinen Ohren war, er wird in Verzückung gesetzt, alle Sinne werden geweckt solange man am Steuer dieses Wunderwerkes ist. Die XSR spricht, sie lebt.