
Nach dem Titel 2015 von Jonathan Rea, der das Geschehen mit 14 Siegen und 528 Punkten total dominierte, hätte Kawasaki sich auf den gewonnenen Lorbeeren ausruhen und das Abenteuer mit der aktuellen Version der ZX-10R weiterführen können. Nein, die Grünen wollten ein Motorrad für Jedermann. Gemäß den Wünschen des WSBK-Werkteams soll sie wettbewerbsfähig sein und gleichzeitig nicht professionellen Fahrern den Einstieg ins Renngeschehen erlauben. Kawasaki hätte sich Begnügen können, 2017 ein neues Modell auf die Beine zu stellen, um die Euro4-Normem (die die Motoren geradewegs kastrieren werden) zu erfüllen. Die gute Nachricht ist, dass das 2016-Modell, mit der gleichen Leistung wie die 2015er, bereits Euro4 zertifiziert ist und dies mit nicht weniger als 200 PS.
Welches Wundermittel wurde gefunden um dieses Resultat zu erreichen? Zuerst wurde der Zylinderkopf überarbeitet: die Einlassöffnungen geneigt gefräst, die Auslassventile haben einen grösseren Durchmesser, geänderte Nockenprofile und einen vergrösserten Verbrennungsraum. Hinzu kommen größere Auslassventile mit einem von 24.5 mm auf 25.5 mm erweiterten Durchmesser, ein Titanauspuff, eine größere Airbox, ein um 25 % erweiterter Luftfilter und – damit der Motor schneller hochdrehen kann – eine Kurbelwelle mit geringerem Trägheitsmoment. Als Zuckerüberzug gibt es eine sensationelle Elektronik, die jeden NASA-Ingenieur erblassen lassen würde.
Das rennfreundliche Kassettengetriebe ermöglicht eine sehr schnelle Abstimmung der Übersetzungsverhältnisse auf die jeweilige Rennstrecke. Um die Beschleunigung zu verbessern, wurde die Originaleinstellung des Getriebes für die Rennstrecke vor allem im 2. und 6. Gang etwas kürzer ausgelegt, der 1., 2. und 3. Gang liegen enger beieinander.
Wie man bereits heute weiss, gibt das neue Reglement der WSBK für die Weiterentwicklung der Motoren den Werkteams weniger Manövrier-Möglichkeiten. Auch das Fahrwerk der Kawa wurde einer Totalrevision unterzogen. Unter den von den WSBK-Piloten verlangten wichtigsten Änderungen bemerkt man die um 7.5 mm nach Hinten verschobene Lenksäule – näher beim Fahrer – was ebenfalls mehr Gewicht auf das Vorderrad verlagert, das Einlenken in die Kurven begünstigt und bessere Rückmeldungen des Reifens an den Fahrer erlaubt. Der Rahmen zieht eine Linie von der beschriebenen Lenksäule bis zur Hinterradschwinge. Diese Schwinge ist eines der Meisterstücke dieses Motorrades. Um mehr Gewicht auf den vorderen Teil der Ninja zu bringen, wurde sie um 15.8 mm verlängert, was auch das Bremsen, das Kurveneinlenken und das Umlegen von einer auf die andere Seite erleichtert.
Kawasaki wendet zur dynamischen Modellierung der Reifen den Ansatz einer magischen Formel von innen nach aussen an. Es wurde eingesetzt, um die Belastungen der Schwinge bei der Ausnutzung des vollen Potenzials der Reifen auf der Rennstrecke zu ermitteln. Anschliessend wurde eine moderne Analyse der dynamischen Steifheit verwendet, um die erforderliche Wandstärke und die Abmessungen für eine ideale Verwindungs- und Seitensteifheit genau zu ermitteln. Die optimierte Verwindungssteifheit der Schwinge trägt zum agileren Handling des Motorrades bei.
Wie schon erwähnt, wurden die Kurbelwelle überarbeitet. Eine grössere Überlappung steigert die Leistung und dies vor Allem bei hohen Drehzahlen. Die aus Chrom-Molybdän-Stahl gefertigten Nockenwellen sparen ausserdem Gewicht. Damit wird das Handling erleichtert und der etwas höhere Schwerpunkt der Maschine erhöht ihre Lebhaftigkeit.
Um schnell zu fahren reicht es aber nicht einen grossen Motor und ein gutes Fahrwerk zu haben, es braucht auch die entsprechende Federung, die die perfekte Verbindung zur Bereifung und damit zur Asphaltunterlage sicherstellt. Mein Versuch fand auf dem Asphalt von Sepang statt (die Bühne, auf welcher letztes Jahr der Clash des Finales des MotoGPs war).
Die Gabel der Kawa entstand in Zusammenarbeit mit Showa, wobei die Rückschlüsse der WSBK direkt in die Fabrikation einflossen. Die neue „Balance Free Front Fork - BFRC“ genannte Technologie produziert die Dämpfungskraft außerhalb des Hauptrohrs in der Kammer für die Dämpfungskraft. Dadurch kann die gesamte Oberfläche des Hauptkolbens als Pumpe dienen, die Öl zu den Ventilen drückt. Diese Anordnung trägt zur Unterdrückung von Schwankungen des Druckausgleichs bei. Die externe Druckkammer enthält Druckstickstoff, um dem Druckanstieg in der Kammer für die Dämpfungskraft entgegenzuwirken. Dies erlaubt einen sehr gleichmässigen Druckanstieg und somit eine konsistente Entwicklung der Dämpfungskraft.
Der Hinterrad-Stossdämpfer stammt ebenfalls von Showa und ist eine leichtere Version des BFRCs. Selbstverständlich ist er in einer externen Kammer in allen Richtungen einstellbar. Das Schaltgestänge ist oberhalb der Hinterradschwinge platziert, damit genügend Raum für die Abgasschalldämpfung der homologierten Version vorhanden ist.
Bei diesen Beschleunigungen und Geschwindigkeiten dürfen natürlich die Bremsen nicht vergessen werden. Beschleunigen ist sicher gut, aber spät bremsen ist auch nicht zu verachten. Der offizielle Testfahrer Tom Sykes ist dafür bekannt, dass er nicht wie eine Ballerina bremst. Kawa musste ein System entwickeln, das auf der Höhe der Performance-Erwartungen der neuen Ninja ist. Am Vorderrad befinden sich zwei massive, halbschwimmend gelagerte Brembo-Bremsscheiben mit einem Druchmesser von 330mm, gegenüber 310mm bei der alten Version. Die Monoblock-Bremssättel M50 aus Aluminiumdruckguss beissen sich geradezu in die Vorderrad-Bremsscheiben. Und, Halleluja, die ZX-10R ist mit Schlauchverbindungen aus der Flugzeugentwicklung ausgerüstet, Beweis genug, dass sich die Japaner von den Gummischläuchen bei den Rennmaschinen verabschiedet haben. Der radiale Hauptbremszylinder wird ebenfalls von Brembo geliefert.
Gut, die 2016er ZX-10R hat einen leistungsstarken Motor, ein Fahrwerk, das jedes Überholmanöver – der gesamten bisherigen Kavallerie auf dem Boden – erlaubt, spät bremsend und sehr rasant in die Kurven stösst, aber etwas habe ich bisher noch nicht erwähnt: die Elektronik! Ohne diese ist auch ein leichtes Motorrad mit 200 PS – ob bei der WSBK oder im MotoGP – nicht fahrbar oder wirft den Fahrer schon nach wenigen Metern ab.
Die Kawa wurde deshalb mit einer neuen Version der hauseigenen Traktionskontrolle der S-KTRC „bewaffnet“, die jetzt mit fünf (gegenüber vorherigen 3) Voreinstellungen zur Verfügung steht. Die ZX-10R ist mit der brandneuen IMU (Inertiale Messeinheit – Messung der Trägheit) von Bosch ausgerüstet. Sie überwacht die Beschleunigung entlang der Längs-, Quer- und Hochachsen, ausserdem werden die Rollrate (Drehung um Längsachse) und Nickrate (Drehung um Querachse) ebenfalls gemessen. Die Gierrate (Drehung um Hochachse) wird vom Steuergerät mit Originalsoftware von Kawasaki berechnet.
Außerdem hat sie die von Kawasaki entwickelte KLCM – eine elektronische Anfahrhilfe – die bei Rennbeginn einen unglaublichen Katapult-Start ermöglicht, das für Rennbetrieb einstellbare KIBS (KAWA ABS), das KEBC, das die Motorbremse regelt und das KQS, der Gangshifter. Erstaunlicherweise ist der Preis - trotz all diesen elektronischen Hilfen - nicht unerschwinglich. Man könnte sich wirklich vorstellen, sich mit einer dieser Maschinen in einer Rennserie einzuschreiben und würde sich dabei nicht lächerlich machen.
Nach einigen Stunden im Flugzeug komme ich auf dem Rundkurs von Sepang an. Mein mir für den Tag zugeteilter Mechaniker, Joey, sorgt sich um meine ZX-10R, stellt sie gemäß meinen Vorgaben ein und kümmert sich um die Wartung. Ich fühle mich wie ein richtiger Werkspilot.